Cover
Titel
Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns


Autor(en)
Meckel, Miriam
Erschienen
Reinbek bei Hamburg 2011: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Monika Gisler, ETH Zürich

[ALGORITHMUS, der: exakt definierte Handlungs- oder Rechenvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Gruppen von Problemen in endlich vielen Schritten.]

In Miriam Meckels neuem Buch beobachtet ein mit menschlicher Stimme ausgestatteter Algorithmus den Umgang der Menschen mit ihren Computern. Der Algorithmus erzählt aus der Ich-Perspektive, wie es ihm und seinesgleichen gelungen ist, die Menschen digital zu überführen. Menschen, die eigentlich unentschieden, zweifelnd, emotional und unberechenbar sind, können nun mit Leichtigkeit in ein digitales System integriert werden. Dabei geht es dem Algorithmus weniger um seinen Machtwillen, als vielmehr darum, jedes Problem eindeutig zu lösen. Denn ein Algorithmus ist, da er aus endlich vielen Schritten eindeutige Handlungsvorschriften zur Problemlösung anbietet, logisch und konsequent. So konsequent, dass er die perfekte Auswertung gewährleistet und den Zufall ausschliesst. Es ist dieser Verlust von Zufall, von Serendipität, von menschlichem Ermessen, der weitreichende Konsequenzen haben wird, deren wir uns, so die Autorin –Lehrstuhlinhaberin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen – bewusst machen müssen. Dies geschieht insbesondere dort, wo sich Menschen heute am liebsten aufhalten: im Internet, bei Google und Co. Es geht der Autorin darum, zu verdeutlichen, dass das mittels algorithmischer Rechenmodelle personalisierte Internet unser Weltbild und damit uns selbst verändern kann und wird.

Worum geht es? Ende 2009 kündigte Google die personalisierte Suche für jedermann an. Ein vermeintlich anonymer ‘User’ verrät viel über sich. So kann Google auslesen, wo in etwa sie/er sich befindet, welche Sprache auf ihrem/seinem Computer eingestellt ist, welches Gerät und welchen Browser sie/er benutzt. Aus den Signalen lassen sich Rückschlüsse ziehen. Ohne die Identität zu kennen, kann der Suchgigant einen konkreten User in eine Schublade stecken. Diesen Wechsel von einer generalisierten zu einer personalisierten Suche im Netz sieht Meckel als Zäsur, die es genau zu beobachten gilt. Algorithmen haben in diesem Moment die Kontrolle übernommen. Daraus lassen sich verschiedene Zukunftsszenarien ableiten.

Im zweiten Teil des Buches fragt sich der «letzte Mensch» denn auch konsequenterweise, was von ihm übriggeblieben ist in diesem Übergang. Er fragt, ob das typisch Menschliche noch Bestand hat oder ob er lediglich als download existiere, als digitale Erinnerung an sich selbst, ohne individuell oder frei zu sein, eine Illusion seiner selbst.

Das Szenario in diesem Buch ist zugespitzt. Es soll dazu anregen, zu verstehen, wie die Mechanismen heutiger digitaler online-Technologien funktionieren. Dabei macht die Autorin kein Hehl daraus, dass sie die gegenwärtig vorhandenen Möglichkeiten als problematisch ansieht. Menschen sind Gewohnheitstiere, die gerne das nehmen, was sie schon kennen. Algorithmen jedoch – so die Autorin – schalten Lernprozesse aus. In einem personalisierten Netz findet die/der User diese nicht mehr.

Algorithmen bestimmen also die Auswahl der Treffer bei Google. Aber bestimmen sie damit auch unseren Alltag? Algorithmen sind zwar tatsächlich allgegenwärtig (nicht nur im Internet), allerdings können sie immer nur mit den Daten arbeiten, mit denen sie gefüttert werden. Das sind heute zweifelslos viele, das Stichwort Big Data ist hier angebracht, auch wenn es im Buch keine Verwendung findet. Aber sind viele Daten auch valable Daten? Ist Big Data nicht primär eine quantitative, damit aber noch nicht zwingend eine qualitative Grösse? Und sind Big Data, also Daten aus sozialen Netzwerken, Retail Daten (online und in Shops), Kreditkartendaten, Mobilitätsdaten, generische, ursächliche Daten? Was aber ist dann mit der Performanz, die unseren alltäglichen Umgang mit uns selbst und mit anderen bestimmt?

Sind wir die, die wir online – z.B. auf Facebook – vorgeben zu sein? Sind es nicht viel mehr Inszenierungen – hybride Texte unserer selbst? Wenn ich mir die Facebook-Seiten der heutigen 12-Jährigen anschaue, die notabene auf Facebook mindestens 13 Jahre alt sind, da dies das ausbedingte Mindestalter für einen Beitritt ist, stelle ich mit Erstaunen und Belustigung fest, dass zahlreiche von ihnen bereits verheiratet sind, auf den Bildern kaum (oder nur für ihre Nächsten) erkennbar sind, dass sie eine inszenierte Sprache verwenden (die in der Schule kaum geduldet würde) usw. Aber auch wenn ich online shoppe, ist dies nur ein kleiner Teil meiner Einkaufsaktivität. Ich gehe dennoch weiterhin in Buchläden, zum Griechen, an den Sushi-Corner. Nicht zwingend und nicht überall werden meine Daten erfasst. Was ich also hinterlasse, sind Arrangements, Konfigurationen, die mich andeuten, aber nicht abbilden.

Die Spuren, die wir täglich im Netz hinterlassen, müssen ein Thema sein. Überinterpretieren sollte man sie dennoch nicht. Sie bilden immer nur einen Teil des Individuums, der Gesellschaft, der sozialen Dynamiken, ab, und vielleicht noch nicht einmal den wichtigsten. Sie sind nicht das, was den Menschen ausmacht. Und ohne Daten sind Algorithmen nichts.

Dennoch ist es natürlich richtig, auf Themen wie Informationsverengung, Privatsphäre, Ownership aufmerksam zu machen. Im angelsächsischen Raum wird dies seit längerem getan (Dana Boyd, Eli Pariser, Cass Sunstein). [18] Miriam Meckel ist es zugute zu halten, diese Debatte in den deutschen Sprachraum transferiert zu haben.

[18] Für den deutschsprachigen Raum nun auch: Mercedes Bunz, Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen, Berlin, Suhrkamp, 2012.

Zitierweise:
Monika Gisler: Rezension zu: Miriam Meckel: Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.335-336.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.335-336.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit